20.02.2004: 
Über die Charaktereigenschaften

Im muslimischen Verständnis sind innerer Zustand und äußeres Verhalten miteinander verbunden - Von Abdurrahman Reidegeld, Köln

Viel wurde bereits über die Akhlâq geschrieben, doch die Frage nach einer Förderung der lobenswerten Charaktereigenschaften steht nach wie vor ganz aktuell im Blickpunkt aller aufrichtigen Menschen, gleich welcher Religion, Weltanschauung oder ethnischen Zugehörigkeit. Die islamische Kultur hat gerade in diesem Punkt einen Reichtum an Lösungen und Methoden anzubieten. Dabei ist das Bewusstsein darüber, was die Rolle des Menschen in Diesseits und Jenseits, in Welten und im Kosmos sein soll, von entscheidender Bedeutung. Manche Bereiche, die die Akhlâq betreffen, sind sicherlich dem Menschen als Voraussetzung von Geburt an mitgegeben, doch alle die Moral betreffenden Werte lassen sich durch praktische Erziehung (Riyâda) und Hervorheben der ehrenwerten Bildung (Adab) verbessern.

Der Gesandte Gottes, Friede auf ihm, hatte in sich selbst bereits hervorragende Charaktereigenschaften; man kann sagen, dass er dadurch zum Träger der Botschaft des Islam geeignet war. So wird er, Friede auf ihm, durch den Qur’ân1 selbst wie folgt beschrieben: „Und du verfügst wahrlich über großartige tugendhafte Eigenschaften“ (wa-innaka la-’alâ khuluqin ‘azîm). Doch auch umgekehrt wird der Qur’an als Beschreibung des prophetischen Gesamt-Charakters („Khuluq“) genannt; so berichtet ‘A’ischa in einer Sahih-Überlieferung: „Wahrlich, die Charakterliche Eigenart (Khuluq) des Gesandten Gottes war der Qur’an.“2 Es war und ist eine strittige Frage, inwiefern und inwieweit die Akhlâq eine angeborene beziehungsweise anerworbene Eigenschaft des Menschen sind. Dass aber eine Veränderung von Akhlâq durch äußeren Einfluss gegeben ist, wird allgemein anerkannt.

„Akhlâq“ ist die Mehrzahl des Wortes „Khuluq“ und hängt von derselben grammatischen Grundwurzel ab wie der Begriff „Khalq“ (Schöpfung). Wörtlich kann man daher unter „Akhlâq“ zum einen das verstehen, wodurch besondere Verhaltensweisen hervorgebracht werden, zum anderen kann es aber auch vorgegebene Grundeigenschaften des Menschen bezeichnen. Die erste Sinngebung wird durch den bereits oben genannte Vers (im Begriff des „Khuluq ‘azîm“) bestätigt, insofern als der Gesandte Gottes aufgrund der besagten großartigen Charakterart als schönes Beispiel in der Umsetzung des Qur’ans dienen kann: „In dem Gesandten Gottes habt ihr ein schönes beispielhaftes Vorbild (uswatun hasana)“3. Auch der Gegenpol zu diesem Khuluq wird genannt, wo es im Qur’an heißt: „Und wärest du grob, hartherzig, so würden die Menschen vor dir wegfliehen“4.

Die Akhlâq können an der Verhaltensweise erkannt werden, so wie umgekehrt diese Akhlâq auch durch bestimmte Handlungen gestärkt beziehungsweise geschwächt werden. So ist es bezeichnend für jemanden mit guten Akhlâq, dass er etwa einem Hingestürzten aufhilft; ja er wird gar nicht mehr anders handeln können, wenn er derartige Handlungen oft vollzieht - sein Wesen wird dadurch geprägt. Falls sich diese Person aber in Gesellschaft übler Menschen begibt und sich daran gewöhnt, untätig zuzusehen, wenn jemand fällt oder ihm ein Unglück passiert, wird diese Eigenschaft schwächer werden. Diese Charaktereigenschaften und ein ihnen entsprechendes Verhalten bedürfen daher notwendigerweise einer Erziehung.

Die Grundlage ist nach islamischer Auffassung bereits durch den Schöpfer selbst gelegt: durch die „Fitra“, die grundlegende Veranlagung des Menschen. In dieser Fitra sind drei Arten von Wissen inbegriffen:

• Das Wissen, dass es einen Schöpfer gibt und dass dieser Schöpfer der Herr aller Wesen ist; dazu heißt es im Qur’an: „Und (gedenke), als dein Herr aus den Kindern Adams - aus ihren Lenden - ihre Nachkommenschaft hervorbrachte und sie zu Zeugen gegen sich selbst machte, (indem Er sprach): ‘Bin Ich nicht euer Herr?’, und sie sagten: ‘Doch, wir bezeugen es.’“ 5

• Das Wissen um Gut und Böse; Gott setzt letztlich fest, was gut und was böse ist. Diesen Unterschied setzen zu können, ist eine gesamtmenschliche Erfahrung, unabhängig von formaler Religion oder Weltanschauung. Aus islamischer Sicht ist es allerdings ein Zeichen der Gerechtigkeit Gottes, dass jedem Menschen die Möglichkeit der Erkenntnis zu Gut und Böse mitgegeben ist, insofern, als nur dadurch der Mensch eine echte Chance hat, die Prüfung des Diesseits zu bestehen. Dazu tritt aber auch die Grundanlage der Seele, in beide Richtungen hinzustreben. Hierzu heißt es im Qur’an: „Und bei der Seele und bei Dem, der sie gestaltet hat, und ihr den Sinn für ihre Sündhaftigkeit und für ihre Gottesfurcht eingegeben hat.“6

• Das Wissen um die Notwendigkeit von Gottesdienst (‘Ibada). Der Urgrund der Erschaffung des Menschen war, dass Gott von Dschinn-Wesen und Menschen Anbetung und allgemein Gottesdienst jedweder Art wünscht, so wie es im Wort Gottes heißt: „Und ich habe die Dschinn-Wesen und die Menschen nur erschaffen, damit sie (Mir gegenüber) Gottesdienst (‘Ibada) erweisen.“7

Die Anerkennung, dass Gott existiert, der Alleinige Schöpfer und auch der Erhaltende Herr der Schöpfung ist, bedingt, dass Er auch Anrecht hat - und nur Er -, angebetet zu werden. So gesehen besteht eine geeignete Erziehung des Menschen darin, solche Charaktereigenschaften zu stärken, die diesem Ziel - der aufrichtigen Verehrung Gottes (ibada) - förderlich sind. Tatsächlich werden in Sprachgebrauch bewusst gute Charaktereigenschaften gemeint, wenn man den Begriff „Akhlâq“ ohne Zusatz verwendet. Hier kommt auch ein bestimmter Ansatz zum Tragen, nämlich dass die Fitra des Menschen positiv ist und der Mensch hinsichtlich seiner Erschaffung gut ist, allerdings zum Üblen hinneigen kann. Er benötigt daher Wissen über die Rechte der Menschen (Haqq AnNas) und die Rechte Gottes (Haqq Allah), damit er nicht unversehens in sündhafte (= schlechte) Handlungsweisen verfällt.

Die erste Aufgabe der Erziehung obliegt den Eltern, und daher wird das Kind in Seele und Körper als Amâna (anvertrautes Gut) bezeichnet, das den Eltern von Gott gegeben wurde. Von den Eltern wird Rechenschaft verlangt und bei Nichtbeachtung ihrer Sorgfaltspflicht Strafe angedroht: „O ihr Gläubigen, bewahrt euch selbst und eure Familien vor einem Feuer (...).“8 Die Akhlâq nun entstehen durch immerwährende Hinwendung des Kindes zu Dingen, die in Sicht des Islams positiv bewertet werden, und ab einem bestimmten Alter darin, auch den Hintergrund für dieses Handeln zu erläutern, damit dieses Handeln bewußt wird und der junge Mensch auch den vollen Lohn und Nutzen bei Gott dafür erhalten kann.

Manche Bereiche der Akhlâq betreffen zwar nur den Einzelmenschen und Gott, aber die Mehrheit der Akhlâq beschäftigt sich mit der Wechselbeziehung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Praktisch gesehen werden vor allem folgende Aspekte durch die Akhlâq berücksichtigt (wobei die Reihenfolge auch der Priorität entspricht):

1• Das Verhalten gegenüber Eltern und Verwandten beziehungsweise Familienmitgliedern.

2• Das Verhalten gegenüber den Nachbarn.

3• Das Verhalten gegenüber den zu achtenden Respektspersonen (insbesondere den Gelehrten und den persönlichen Lehrern).

4• Die Haltung gegenüber Gästen.

5• Das Handeln in der Gesellschaft von Freunden.

6• Das Handeln in der Öffentlichkeit.

7• Das Handeln unter Ausschluss jeglicher anderer Personen.

Die Stufen 1 bis 3 umfassen die Personen, mit denen der Mensch stetig Kontakt hat, darum das „immerwährende Zusammen“ genannt. Die Stufen 4 und 5 beschäftigen sich mit dem „zeitweisen Begegnen“, weil Gäste und Freunde nur manchmal das Leben der Person berühren. Die Stufe 6 beschäftigt sich mit dem Ruf des Menschen in der Öffentlichkeit, vor der sich der Mensch großteils zurückziehen kann, und heißt darum „das zeitweise Außen“, und die 7. und letzte Stufe der Personenbeziehungen beschreibt, wie sich ein Mensch vor Gott verhält, wenn er ohne jeglichen Mitmenschen ist, sich aber bewusst ist, dass Gott immer mit ihm ist.


Fußnoten: 

1 Sure Al-Qalam

2 Als Sahih-Hadith übereinstimmend in dieser Form überliefert in den Sahih-Werken von Muslim, Ibn Khuzaima, Ibn Hibbîn und im Mustadrak Ad-Dârimî; mit leichten Varianten, aber völlig im Sinn entsprechend im Tafsir von At-Tabarî, Ibn Kathîr und Al-Qurtubî, zu Sure Al-Mu’minûn, 1-9. In allen Varianten wird von ‘A’ischa auf die ersten neun Verse von Sure Al-Mu’minûn verwiesen, in denen beispielhaft die wichtigsten Eigenarten der Gläubigen aufgezählt werden.

3 Sure Al-Ahzâb, 21

4 Sure Âl ‘Imrân, 159

5 Sure Al-A’râf, 172

6 Sure Asch-Schams, 7-8

7 Sure Adh-Dhâriyât, 56

8 Sure At-Tahrîm, 6. Es besteht unter den Gelehrten Einigkeit, dass hier die Amana-Verpflichtung der Eltern hinsichtlich ihrer Kinder gemeint ist.

- Veröffentlicht in der IZ (Islamische Zeitung) -

 

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