app store btn google play btn

.

10.08.2006: 
Die Hizbullah als "Surrogat für die tatsächliche Schwäche der Araber"

"IZ-Begegnung" mit dem Autoren Abdurahman Reidegeld über seine Erfahrungen im Libanon


Der Islamwissenschaftler und Autor Abdurrahman Reidegeld aus Wien befand sich mit seiner Familie im Libanon, als die israelischen Angriffe begannen. Am 23.07. konnte er schließlich über Damaskus die Region verlassen. Die IZ sprach mit ihm darüber, wie er die Situation erlebt hat, und fragte ihn nach seiner Einschätzung der Folgen der gegenwärtigen Situation.

Islamische Zeitung: Wie haben Sie den Beginn der Angriffe im Libanon erlebt?

Abdurrahman Reidegeld: Es fing sehr abrupt an. Der Anlass dafür war den meisten libanesischen Bürgern nicht bekannt, keiner hat mit irgendetwas gerechnet. Und auf einmal wurde der Flughafen bombardiert. Warum hat man gerade den Flughafen bombardiert, der eigentlich ausschließlich für Tourismus und zivile Luftfahrt da ist? Dieser Angriff war aus libanesischer Sicht das Fanal der ganzen Sache; das Signal, dass man in erster Linie das bombardiert, was für den leichten, aber schwierigen wirtschaftlichen Fortschritt des Landes gestanden hat. Dass dies sofort kaputt gemacht wird, wurde so verstanden: Es darf nicht sein, dass es einem besser geht, man muss gleich wieder zurückgebombt werden. Diese Sicht wurde durch die späteren Ereignisse auch bestätigt. Der Flughafen war Symbol für das, was beispielsweise Rafiq Hariri geschafft hatte, nämlich, dass das nach 17 Jahren Bürgerkrieg völlig zerstörte Land wieder zur Außenwelt geöffnet und attraktiv geworden ist, dass eine gewisse Normalität eintritt. Und deswegen wurde meiner Ansicht nach auch der Flughafen bombardiert; das hat symbolischen Charakter, und das wurde im Libanon auch von allen so verstanden.

Islamische Zeitung: Sie haben sich im Norden des Landes aufgehalten. Wie waren die Auswirkungen der Angriffe dort?

Abdurrahman Reidegeld: Im Norden selbst gab es kaum Angriffe. Aber wir haben über die Familie und Verwandtschaftsbeziehungen einiges davon mitbekommen. Einer meiner Schwager arbeitet im Süden von Beirut; die Familie einer Freundin meiner Frau hat, ebenfalls im Beiruter Süden, ihr Haus verloren. Man ist also unmittelbar betroffen, weil man sofort Bekannte hat, die betroffen sind, auch wenn man selber nicht den Angriffen ausgesetzt war. Es ist zunächst vor allem ein Gefühl der Hilflosigkeit, wenn mit modernsten Waffen aus der Luft ein Land zurückgebombt und dabei gar nicht gefragt wird, wer für den Anlass verantwortlich ist. Diese Unverhältnismäßigkeit der Mittel war den Libanesen und auch den im Land anwesenden Ausländern sofort klar, nur im Ausland ist dies erst nach und nach herausgekommen.

Islamische Zeitung: Wie wurden die Angriffe in der libanesischen Öffentlichkeit kommentiert?

Abdurrahman Reidegeld: Sehr unterschiedlich. Zunächst wurde es negativ gesehen, vor allem aus Regierungskreisen, aber auch anderen, dass das Ganze ein Alleingang der Hizbullah-Milizen im Süden gewesen ist. Spätestens aber am dritten Tag, als klar wurde, dass sämtliche zivile Infrastruktur unterschiedslos vernichtet wurde und dass die Erklärungen der libanesischen Regierung, dass sie keinen Einfluss auf die Milizen habe, beiseite geschoben wurden, nach dem Motto: Jetzt bombardieren wir euch so lange, bis ihr aus Angst Druck auf euch selbst ausübt, spätestens dann wurde gesagt: In Ordnung, wenn wir ohnehin alle zu Geiseln gemacht werden, dann stehen wir auch dazu. Und so ist es dazu gekommen, dass sehr viele Leute, die ursprünglich keineswegs mit den Milizen im Süden und ihrer Taktik einverstanden waren, innerlich die Seiten gewechselt haben. Und das hat sich dann auch über die Grenzen hinweg fortgesetzt bis Syrien, Jordanien, Ägypten und so weiter. Egal wie der Beginn war, ob es fingiert wurde, etwas vorgeschoben wurde, was auch immer dahinter stand, aber durch die Art und Weise der flächendeckenden, rücksichtslosen Zerstörung und die Übermäßigkeit der Kriegsführung - es wurden von Anfang an nur Wohngebiete bombardiert, mehrere Krankenhäuser, Krankenwagen und später auch der UN-Stützpunkt - wurde Israel als nationaler Feind betrachtet, und wer immer dagegen aufsteht, kommt einem recht. Das ist genau das, was eine kluge Taktik der Israelis hätte verhindern können. Aber die Angreifer sind nicht klug, sie sind wirklich nicht klug. Der Grund, warum nach Meinung der meisten der Norden bisher ausgenommen wurde, ähnlich wie im letzten Bürgerkrieg, war wohl die Hoffnung, dass man auf diese Weise die Bevölkerung spalten könne, vor allem Schiiten und Sunniten, aber das ist durch die Art und Weise der Angriffe nicht aufgegangen. Dies wurde auch von den Medien gleich in den ersten Tagen gesagt. Als dann die Angriffe auf Flughäfen, Häfen, Straßen, Brücken und so weiter - alles Dinge übrigens, die mit UNO-Geldern bezahlt worden sind, die internationale Projekte waren - wiederholt und großflächig fortgesetzt wurden, war klar, dass keine Rücksicht genommen werden würde. Vieles von der nun zerstörten Infrastruktur war übrigens auch mit deutschen Geldern oder unter deutscher Regie gebaut worden.

Islamische Zeitung: Die Angriffe scheinen ja eher noch zu einer Solidarisierung mit der Hizbullah geführt zu haben. Wie wird diese Organisation im Libanon gesehen, und welche Rolle spielt sie?

Abdurrahman Reidegeld: Es gibt zwei Aspekte. Der eine ist die Unfähigkeit der gegenwärtigen Regierung, sich ausgiebig um den Süden zu kümmern. Das ist allerdings auch eine wechselseitige Beziehung, weil einige Kräfte, darunter die Hizbullah, auch andere Elemente hatten, nicht nur ihre Truppen, sondern auch Krankenhäuser und wohltätige Einrichtungen. Daher ist es schwierig, diese Bewegung als Ganzes einzuschätzen, sie ist wie gesagt auch karitativ und sozial tätig gewesen, in Bereichen, in denen die Regierung nichts angeboten hat. Und so hat sie sich im Laufe der Zeit seit 1982 so fest institutionalisiert, dass sie quasi die einzige Institution im Süden wurde. Und natürlich ist die libanesische Armee wesentlich schwächer als die Hizbullah. Schon von daher ist die Idee einer Entwaffnung der Hizbullah durch den libanesischen Staat lächerlich. Das funktioniert so nicht, und das sagt auch jeder, der sich mit der Lage auskennt. Was die Bevölkerung betrifft, weiß man, dass die schiitische Bevölkerung allgemein nicht unbedingt Sunniten-freundlich ist. Jede Gruppe ist für sich. Es gab und gibt Animositäten, das ist keine Frage. Auch wenn es viele sunnitische Muslime gibt, die in Projekten der Hizbullah mitmachen, ist es kein unbelastetes Verhältnis. Ich denke aber, dass sich dies durch die jüngsten Ereignisse sehr modifizieren wird. Bisher war es so, dass die einzelnen Regionen immer für sich blieben, es gab nur sehr wenig Bevölkerungsaustausch. Jetzt ist es aber so, dass allein aus dem Süden bereits rund 500.000 Menschen in Schulen, in Privathäusern und bei Familien im Norden, auch bei sunnitischen Familien, untergekommen und gut behandelt worden sind. Ich denke, dass wenn eine halbe Million Menschen, die ihre ganze Habe verloren haben, in einer solch schlimmen Situation aufgenommen werden und eine gute Aufnahme finden, dies zu einer größeren innerlichen Akzeptanz der beiden Gruppen führt, als es sie die ganzen Jahrhunderte zuvor gab. Man kann durch die derzeitigen Umstände von einer Transformierung der libanesischen Gesellschaft sprechen. Eine so weit reichende Veränderung hat es meines Wissens nach bisher noch nie gegeben.

Islamische Zeitung: Die Schiiten stellen ja heute die Bevölkerungsmehrheit im Libanon. Wie äußert sich dies?

Abdurrahman Reidegeld: Man merkt es durch die Einflussnahme in Politik, Verwaltung, Armee und Gesellschaft, aber auch durch Medien, durch öffentliche Projekte wie Krankenhäuser und so weiter. Vor allem Fernseh- und Radiokanäle machen hierbei viel aus. Die Präsentation der Schiiten in der Öffentlichkeit ist heute selbstbewusster und klarer. Früher war der Süden ein Armenhaus, heute tritt man deutlich selbstbewusster auf. Der Punkt ist, dass man auf Seiten der Schiiten weiß, dass man eigentlich eine absolut dominante Rolle spielen müsste, da der Libanon ja nach einem Proporzsystem der einzelnen religiösen Gruppen geordnet ist. Aber es ist ein vorgeschobenes Proporzsystem, denn es funktioniert nach den Geburtslisten von 1927. Die Kinderzahl hat sich jedoch in den letzten Jahren vor allem bei den Schiiten stark erhöht. Andererseits sind gerade die maronitischen und syrischen Christen, aber auch Schiiten in großen Zahlen ausgewandert, wobei von letzteren viele aber inzwischen wieder zurückgekehrt sind. Die eigentliche demographische Wirklichkeit spiegelt sich heute nicht im Parlament wieder - eigentlich müsste der Präsident, wenn es rein nach Proporz ginge, schiitischer Muslim sein. Er ist aber maronitischer Christ. Dieses Missverhältnis setzt sich auch bei den gesellschaftlichen Mitsprachemöglichkeiten fort. Durch die Frage der offenen Grenze mit Israel nach dem Bürgerkrieg konnte sich die Hizbullah profilieren. Vor den derzeitigen Angriffen hatten sich alle ehemaligen Bürgerkriegsparteien im Libanon an einen Tisch gesetzt, um nach dem syrischen Abzug zu einer nationalen Einheit zu finden. Es ist interessant, dass gerade zu diesem heiklen Zeitpunkt, wo auch die Frage der Entwaffnung der Hizbullah ein Thema war, dieser israelische Schlag kommt, und so die Voraussetzungen völlig umgekehrt werden. Jetzt wird niemand im Libanon mehr von einer Entwaffnung der Hizbullah sprechen können, da der libanesische Staat die Bevölkerung ja offensichtlich nicht schützen konnte. Diese Sicht vertritt die Mehrheit der Bevölkerung, auch viele christliche Gruppen stimmen dem zu. Denn nun ist das Land im Grunde zerstört. Und man fragt sich, wie es sein könne, dass die Regierung einen nicht beschützt hat. Die einzigen, die etwas tun, scheinen die Milizen der Hizbullah zu sein. Und da spielen dann alle anderen Dinge kaum noch eine Rolle.

Islamische Zeitung: Wie ist es zu Ihrer Ausreise aus dem Libanon gekommen? Welche Hilfe haben Sie dabei von der Deutschen Botschaft bekommen?

Abdurrahman Reidegeld: In den ersten sieben Tagen haben wir nur durch Augenzeugenberichte und durch die Medien von den Angriffen mitbekommen; das änderte sich dann aber, als die ersten Detonationen in Richtung Tripolis hörbar waren und man merkte: Die Welle kommt näher. Von da an war natürlich dieses Belagerungsgefühl da, und auch die Kinder fingen an, unruhig zu werden. Ich selbst hätte trotzdem noch eine Weile ausgehalten, aber es gab dann mehrere Kontakte mit den Botschaften, vor allem mit der in Damaskus in Syrien. Die Deutsche Botschaft im Libanon haben wir leider so gut wie nie erreichen können, bis auf ein einziges Mal. Die Schiffstransporte, die es auch gab, wollte ich nicht in Anspruch nehmen, da diese Transporte, was die hygienischen und humanitären Bedingungen angeht, katastrophal waren. Es gab Schiffe, die mit 15.000 Menschen völlig überbesetzt bis zu fünf Tagen unterwegs waren, ohne eine Toilette. Auch die Sicherheit der Schiffe vor Beschuss war nicht zu gewährleisten. Ab dem achten Tag haben wir uns mit der Botschaft in Damaskus in Verbindung gesetzt, und das war eine gute Entscheidung. Ich muss sagen, dass die Botschaft in Damaskus stets ein besseres Bild abgegeben hat, als die im Libanon. Über die Botschaft in Damaskus kann ich ausschließlich gutes sagen. Sie war immer sofort erreichbar, und man hat uns gute Ratschläge gegeben. Die Grenzen wurden inzwischen immer dichter, einige größere Übergänge waren bereits geschlossen, an den verbliebenen drängten sich immer mehr Menschen. Wo normalerweise vielleicht 100 oder 200 Leute stehen, waren es nun vielleicht 14.000. Vom Auswärtigen Amt wurde mir dann gesagt, dass man nicht vorhabe, im Norden Libanons irgend etwas zu unternehmen. Auf meine Nachfrage, ob wir also auf eigenes Risiko sehen müssten, wie wir klar kommen, lautete die Antwort: „Ja“. Man hat uns also klar gesagt, dass man nichts unternehmen werde. Von da an habe ich mich nur noch an die Botschaft in Damaskus gewandt. Bei den Bussen, die über Syrien in Richtung Türkei fuhren, hörte man von vielen Problemen. Dann hörte ich von der Botschaft in Damaskus, das wir nun unbedingt kommen sollten, man habe noch ein oder zwei Flugzeuge als Ausreisemöglichkeit. Wir haben uns dann mit Privatautos auf den Weg in Richtung syrische Grenze gemacht - Busse wären zu gefährlich gewesen, da wir auch von getroffenen Bussen gehört hatten. Der Übergang an der Grenze zog sich aufgrund schwieriger Formalitäten über viele Stunden hin, sodass wir das eigentlich geplante letzte Flugzeug verpasst hatten. Die Botschaft beruhigte uns jedoch und man hatte auch Hotelzimmer für uns besorgt. Wir sollten uns erst einmal ausruhen und man sehe dann weiter. Man hat sich uns gegenüber sehr einfühlsam und sehr korrekt verhalten. Als wir am Hotel ankamen, wusste man dort schon Bescheid, es war alles sehr gut organisiert worden. Auch die Betreuung in der Botschaft am nächsten Tag war fürsorglich und vorbildlich. Man versuchte nun, die übrigen Leute mit deutschem Pass auf andere Fluglinien zu verteilen, da alle Bundeswehrmaschinen bereits abgeflogen waren. Im letzten Moment erhielten wir noch sechs Sitze - genau die Zahl, die wir brauchten - auf einem Flug nach Wien. Der Flughafen in Damaskus war auch total überlastet; ich schätze, dass dieser normalerweise für etwa 10.000 Personen ausgelegt ist, es waren aber um die 30.000 dort. Manche warteten schon seit fünf Tagen, so gab es natürlich auch Unmut. Auch hier hat uns die Botschaft aus dieser schwierigen Situation geholfen. Wir mussten nur einiges von unserem Gepäck zurücklassen. Insgesamt hat es gut geklappt, alhamdulillah.

Islamische Zeitung: Sicher war es schwer für Sie, Ihre Verwandten in dieser Situation im Libanon zurückzulassen...

Abdurrahman Reidegeld: Ja. Obwohl die Leute in unserem Ort sagten, es sei dort noch sicher, war unseren Verwandten auch klar, dass sie nicht wissen können, was noch kommt und inwieweit es später noch möglich sein wird, herauszukommen. Wir wollten eigentlich noch bis Ende August dort bleiben. Aber ich hatte auch die Verantwortung vor Gott, meine Familie möglichst sicher herauszubringen. Wir sind ja auch noch relativ gut weggekommen, denn es gab ja auch Familien aus Deutschland, die getötet worden sind. Letztlich, so sehe ich es, war es besser, vor Ort bei der Familie gewesen zu sein, als das Ganze nur von ferne über die Medien zu betrachten.

Islamische Zeitung: Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein?

Abdurrahman Reidegeld: Es wird sicher große Umwälzungen in der Region geben. Die Angriffe werden sicher noch eine Woche andauern. Sollte es zu einem Waffenstillstand kommen, gibt es wohl mehrere weit reichende Folgen. Das erste wird vermutlich der Sturz der gegenwärtigen israelischen Regierung sein, denn keine israelische Regierung hat bisher Schritte unternommen, die die eigene Bevölkerung derart in Gefahr gebracht haben, dass seit 1948 erstmals israelische Städte in diesem Ausmaß bombardiert werden. Sie wird dafür verantwortlich gemacht werden, die Zivilbevölkerung nicht ausreichend geschützt zu haben, trotz aller Militärmaschinerie, und auch für diese Eskalation aufgrund ihrer Überreaktion in Form der Angriffe auf den Libanon. Außerdem machen die israelischen Bodentruppen gegen die Hizbullah-Milizen keine gute Figur, auch das wird das Bild der öffentlichen Meinung prägen. Der Mythos der israelischen Armee ist zerstört, das ist jetzt schon klar. Zum anderen wird es unweigerlich zu einer Stärkung der Hizbullah führen. Das ist jetzt schon der Fall. Sie sind die eigentlichen Gewinner des ganzen, da niemand anderes bisher der israelischen Militärmaschinerie über eine so lange Zeit hat standhalten können, nun bereits zum zweiten Mal seit den Kriegsereignissen von 1982. Damit sitzt sie so fest im Sattel, dass dies sicherlich auch seine Auswirkungen auf die innenpolitische Lage im Libanon hat. Alle Diskussionen über eine Entwaffnung sind Blödsinn und Makulatur. Die Hizbullah spielt zur Zeit die Rolle des Helden in der gegenwärtigen Situation, und ich sage bewusst die Rolle, nicht die Wirklichkeit, und hat dadurch einen Mythos geschaffen. So wie der Mythos von Dschenin, dem Massaker, der ein negativer ist, ist dieser neues Mythos nun die Verteidigung des Südlibanons. Und das hat es bisher so noch nicht gegeben, das ist eine neue Erfahrung, die sicher mythisch erhöht und zu einem Surrogat für die tatsächliche Schwäche der Araber werden wird. Und natürlich sind die arabischen Staaten vom Umsturz bedroht, deswegen haben die Außenminister der Arabischen Liga auch eine Petition verfasst, in der die Road-Map und sämtliche Friedensbemühungen mit Israel als für gestorben erklärt wurden. Das mussten sie tun, weil sie Angst vor Umstürzen haben, denn der Druck der Straße ist groß, und sofern sie Anrainerstaaten von Israel sind, können sie jederzeit auch von Israel angegriffen werden. Ich vermute aber auch, dass weltweit zunehmend Staaten sagen werden: Jetzt muss Schluss sein, es geht einfach nicht mehr, dass wir ständig in Kriegssituationen gedrängt werden, die katastrophale Auswirkungen auf die gesamte Weltgemeinschaft haben, nur weil ein Staat es nicht schafft, sich anders als ein Elefant im Porzellanladen zu benehmen. Bisher ist dies stets daran gescheitert, dass dem Veto der USA im UNO-Sicherheitsrat keine Einsprüche seitens China und Frankreich entgegenstanden. Das kann sich aber jetzt ändern, auch weil nun ein chinesischer UNO-Soldat bei dem Angriff auf dem Stützpunkt ums Leben gekommen ist.

Islamische Zeitung: Welche Implikationen haben die derzeitigen Vorgänge Ihrer Einschätzung nach auf die Region?

Abdurrahman Reidegeld: Man muss wissen, dass die Grenze zum Libanon eine offene Grenze ist, anders als bei allen anderen umgebenden Staaten. Außerdem ist Libanon der einzige Staat der Region, der weder einen Friedensvertrag noch irgendein anderes Abkommen mit Israel hat. Es gibt keine Friedensverhandlungen mit Israel. Israel wird in der offiziellen Terminologie als der Feind gehandelt. Syrien hingegen hat zumindest eine Art Status Quo, den man seitens Israel nicht anrührt. Gegenüber dem Libanon gab es hingegen immer wieder Grenzverletzungen. Und Israel hat sich über all die Jahre auch immer wieder herausgenommen, Palästinenserlager im Libanon zu bombardieren, auch jetzt wieder. Das ist eine klare Verletzung der staatlichen Souveränität des Libanon. Hinzu kommt die Wasserproblematik, wo dem Libanon Wasser in erheblichen Mengen gestohlen wurde. Libanon ist eines der wasserreichsten Gebiete in der Region, und kein Nachbarstaat kann auf die aus dem Libanon kommenden Flüsse verzichten. Israel hatte dem Libanon, der derzeit etwa sieben Prozent der Ressourcen nutzt, mit einem Angriff gedroht, falls er mehr als zehn Prozent der Wasserressourcen nutzen würde, obgleich dem Libanon eigentlich noch wesentlich mehr zustünde, nämlich 50 Prozent. Das sind Doppelt- und Dreifachstandards, es ist ein Spiel mit gezinkten Karten. Wenn die UNO nun insbesondere nach den Angriffen auf den Stützpunkt nicht stärker Flagge zeigt, werden sie und ähnliche Organisationen wohl endgültig jeglichen Respekt in der Welt verlieren. Denn das würde bedeuten, dass jeder Staat, der sich kräftig genug fühlt, einfach zuschlagen kann und sich nicht mehr um die gemeinsamen Gremien kümmern muss. Damit wäre alles verloren, was man nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht hat.

Islamische Zeitung: Wie wird es Ihrer Einschätzung nach weitergehen?

Abdurrahman Reidegeld: Ich denke, dass die israelische Armee bald ihre Angriffe beenden müssen wird, weil die eigenen Verluste zu hoch sind. Es gibt nichts, was die israelische Bevölkerung so wenig akzeptiert wie den Tod eigener Soldaten. Im Krieg von 1967 zum Beispiel hatte Israel gar keine eigenen Verluste. Daher sind die derzeitigen Verluste ein absolutes Novum in der Erfahrung der israelischen Bevölkerung, und hinzu kommt noch die Belastung der Zivilbevölkerung durch die Raketenangriffe, die es in dieser Form auch noch nie gegeben hat. Auch innerhalb Israels gibt es inzwischen Fluchtbewegungen, so sollen etwa viele Leute inzwischen Haifa verlassen haben. Auch in Israel gibt es mittlerweile Kritik von hochrangigen Persönlichkeiten, von Professoren, ehemaligen Soldaten und anderen, am Vorgehen der Armee, das zum Teil auch als Kriegsverbrechen bezeichnet wird. Auch das ist etwas neues. Und auch von orthodoxen Rabbinern gibt es teilweise schon Kritik. Ich denke, wir stehen vor einem Paradigmenwechsel, derart, dass gesehen wird, dass das monströse System der israelischen Armee nicht Israel ist und dass Israel als ganzes auch nicht der Zionismus ist. Diese scheinbare, teils propagandistisch begründete Verbindung löst sich unter dem Druck der Ereignisse langsam auf, und da sind, so denke ich, interessante Entwicklungen zu erwarten.

Islamische Zeitung: Vielen Dank für das Gespräch.

 

- Veröffentlicht in der IZ (Islamische Zeitung) -

 

zurück zur Übersicht

Drucken E-Mail

Spende

Unterstütze uns (Betrag frei wählbar)

Spende
Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.